BK 2022 356 - unentgeltliche Rechtspflege
Obergericht
des Kantons Bern
Beschwerdekammer in Strafsachen
Cour suprême
du canton de Berne
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Beschluss
BK 22 356
Bern, 7. November 2022
Besetzung Oberrichter J. Bähler (Präsident), Oberrichter Schmid,
Oberrichterin Hubschmid
Gerichtsschreiberin Lauber
Verfahrensbeteiligte A.__
Beschuldigter
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern
B.__
v.d. Rechtsanwältin C.__
Straf- und Zivilklägerin/Beschwerdeführerin
Gegenstand unentgeltliche Rechtspflege
Strafverfahren wegen Tätlichkeiten, Beschimpfung etc.
Beschwerde gegen die Verfügung der Regionalen Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau vom 17. August 2022 (EO 22 6520)
Erwägungen:
1. Die Regionale Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) führt gemäss Eröffnungsverfügung vom 20. Juni 2022 ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten A.__ wegen Tätlichkeiten, Beschimpfung und Drohung zum Nachteil seiner Ehefrau B.__ (Straf- und Zivilklägerin/Beschwerdeführerin; nachfolgend: Beschwerdeführerin). Mit Verfügung vom 17. August 2022 wies die Staatsanwaltschaft das Gesuch der Beschwerdeführerin um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und Beiordnung von Rechtsanwältin C.__ als unentgeltliche Rechtsbeiständin ab (Ziff. 1). Es wurde festgehalten, dass bis zu einer gegenteiligen Mitteilung davon ausgegangen werde, dass das Mandat von Rechtsanwältin C.__ auf privater Basis weitergeführt werde und Mitteilungen an die Beschwerdeführerin deshalb an diese zugestellt würden (Ziff. 2). Am 26. August 2022 erhob die Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin C.__, dagegen Beschwerde. Sie beantragte unter Kosten- und Entschädigungsfolge, Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung sei aufzuheben. Das Gesuch um Erteilung des Rechts der unentgeltlichen Rechtspflege sei gutzuheissen und es sei die Beiordnung von Rechtsanwältin C.__ als unentgeltliche Rechtsbeiständin anzuordnen. Die Generalstaatsanwaltschaft stellte am 21. September 2022 den Antrag, die Beschwerde sei kostenfällig abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Beschwerdeführerin replizierte am 23. September 2022. Am 27. Oktober 2022 reichte die Generalstaatsanwaltschaft eine Kopie des Protokolls der Einvernahme von D.__ (Sohn der Beschwerdeführerin und des Beschuldigten) vom 18. Oktober 2022 zu den Akten.
2. Gegen Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft kann bei der Beschwerdekammer in Strafsachen innert zehn Tagen schriftlich und begründet Beschwerde geführt werden (Art. 393 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 396 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO; SR 311.0]; Art. 35 des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft [GSOG; BSG 161.1] i.V.m. Art. 29 Abs. 2 des Organisationsreglements des Obergerichts [OrR OG; BSG 162.11]). Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Verfügung unmittelbar in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen und somit zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 382 Abs. 1 StPO). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde ist – unter Vorbehalt des Nachstehenden – einzutreten.
Die Beschwerdeführerin umschreibt in ihrer Replik vom 23. September 2022 einen neuen Vorfall vom 18. Juli 2022, wonach der Beschuldigte sie in Anwesenheit des gemeinsamen Sohnes geschlagen haben soll. Sie beantragt, dass ihr auch insoweit die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren sei. Bezüglich dieses Lebenssachverhalts hat die Staatsanwaltschaft noch nicht geprüft, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat. Es liegt diesbezüglich noch keine anfechtbare Verfügung vor. Mangels Anfechtungsobjekts ist auf die Beschwerde insoweit nicht einzutreten. Die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege betreffend diesen Lebenssachverhalt muss zunächst bei der Staatsanwaltschaft beantragt werden. Erst ein darauf folgender Entscheid der Staatsanwaltschaft kann bei der Beschwerdekammer in Strafsachen angefochten werden.
3.
3.1 Die Staatsanwaltschaft begründet die angefochtene Verfügung wie folgt:
Die Staatsanwaltschaft hat lediglich wegen Tätlichkeiten, Beschimpfung und Drohung eine Strafuntersuchung gegen A.__ eröffnet, wobei das Verfahren betreffend Tätlichkeiten und Drohung nicht weitergeführt werden kann, zumal die Privatklägerin im Rahmen der Einvernahme vom 14.06.2022, Zeilen 89 ff., selber ausgesagt hat, dass diese Delikte nicht begangen wurden.
Die Polizei führt aktuell ein Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung durch. Aus der Einvernahme der Privatklägerin vom 23.06.2022 sind kaum Nötigungshandlungen erkennbar und neutrale Zeugen sonstige Beweismittel liegen keine vor. Der Beschuldigte hat im Rahmen seiner Einvernahme vom 30.06.2022 sämtliche Vorhalte bestritten, von Beschimpfungen von Seiten der Privatklägerin zu seinem Nachteil berichtet und generell eine ganz andere Geschichte erzählt. Ausserdem ergeben sich aus der am 10.08.2022 mit dem Hausarzt der beiden Parteien, E.__, durchgeführten Einvernahme beträchtliche Zweifel an den Ausführungen der Privatklägerin.
Bei dieser Ausgangslage steht Aussage gegen Aussage und in Ermangelung von neutralen Zeugen und Beweismitteln wird das noch zu eröffnende Verfahren bezüglich Vergewaltigung einzustellen sein, zumal kein Tatverdacht erhärtet ist, welcher eine Anklage rechtfertigt und vor Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem Freispruch zu rechnen ist.
Diesen Ausführungen zufolge erscheint eine Zivilklage aussichtslos und es kann offengelassen werden, ob die Privatklägerin über die erforderlichen Mittel verfügt.
3.2 Die Beschwerdeführerin bringt dagegen vor, die polizeilichen Ermittlungen seien seit ihrer ersten Einvernahme auch wegen Vergewaltigung geführt worden. Dies sei der Staatsanwaltschaft ausdrücklich berichtet worden. Es sei nicht ersichtlich, weshalb das Verfahren lediglich wegen Tätlichkeiten, Beschimpfung und Drohung eröffnet worden sei. Die Staatsanwaltschaft greife mehrfach in Bezug auf das Ermittlungsergebnis vor. Sie stelle in Aussicht, das Verfahren wegen Vergewaltigung noch zu eröffnen, dann aber wieder einzustellen. Gleichzeitig seien weitere Ermittlungshandlungen, insbesondere die Einvernahme des Sohnes der Parteien, geplant. Dieses Vorgehen sei widersprüchlich und verletze das Gebot der Rechtssicherheit. Es laufe dem Grundsatz in dubio pro duriore zuwider, da ein Freispruch nicht wahrscheinlicher sei als eine Verurteilung. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft deute darauf hin, dass diese sich bereits eine Meinung über die Erfolgsaussichten der Strafklage und damit verbunden einer Zivilklage gebildet habe, ohne die Untersuchung abgeschlossen zu haben. Dies widerspreche den Anforderungen von Art. 6 Abs. 2 StPO. Gemäss ihren Aussagen habe sie mehrfach und deutlich «Nein» gesagt, womit Nötigungshandlungen klar vorliegen würden. Sie berichte von zahlreichen Situationen, in denen der Beschuldige sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen habe, indem er sie entweder überrascht, die Anwesenheit des gemeinsamen Kindes im Ehebett die Drohung, ihr das Kind wegzunehmen, ausgenutzt habe. Sie berichte auch über die Einstellung ihres Mannes in Bezug auf die Zustimmung zu sexuellen Handlungen. Welche Aussagen letzten Endes glaubhaft seien und welche nicht, sei im aktuellen Verfahrensstadium noch nicht zu klären, sondern bedürfe einer sorgfältigen Aussagenanalyse. Der Hausarzt Dr. med. E.__ habe sich nicht zu den in Frage stehenden Tatvorwürfen äussern können, da er vor der Einvernahme davon nie Kenntnis erhalten habe und offensichtlich auch nicht dabei gewesen sei. Seine Aussagen würden vor allem Vermutungen und subjektive Eindrücke enthalten, welche er weder medizinisch noch sonstwie belegen könne. Auch wenn sie eine phantasievolle Persönlichkeit haben sollte, gebe es keine Hinweise darauf, dass die Tatvorwürfe erfunden seien. Daran vermöge auch die Aussage des Hausarztes, wonach der Beschuldigte seit seiner Krebsdiagnose vermutlich keine Erektion mehr haben könne, nichts zu ändern, zumal die Vergewaltigungsvorwürfe auch von vor der Zeit der Krebsbehandlung im Jahr 2020 datieren würden. Zudem sei auch dies nicht medizinisch korrekt nachgewiesen, sondern lediglich eine Vermutung.
3.3 Die Generalstaatsanwaltschaft führt Folgendes aus:
Der angefochtenen Verfügung ist zu entnehmen, dass der Verfahrensleiter bislang bewusst nur wegen Tätlichkeiten, Beschimpfung und Drohung formell eine Strafuntersuchung eröffnete; also nur diesbezüglich überhaupt einen hinreichenden Tatverdacht bejahte, der eine Untersuchung rechtfertigte. Folgerichtig ging er in der angefochtenen Verfügung bezüglich des Vorwurfs der Vergewaltigung von Aussichtslosigkeit der Zivilklage aus und stellte in Aussicht, das Verfahren insoweit – da er es faktisch als eröffnet erachtet – einzustellen. Auf diese zutreffenden Ausführungen wird vorweg verwiesen.
Was die Beschwerdeführerin zu angeblichen Nötigungshandlungen vorbringt (Ziff. 19), vermag an der Aussichtslosigkeit ihrer Zivilklage nichts zu ändern. Die von ihr zitierten Aussagen vom 23. Juni 2022 beziehen sich allesamt auf angebliche Vorfälle, bei denen der Sohn D.__ 9 10 Jahre alt gewesen wäre. Die Strafverfolgung für diese Taten wäre längst verjährt. Ferner begründet auch die angebliche Einstellung des Beschuldigten, wonach die Privatklägerin als seine Ehefrau für Sex hinhalten müsse, keine Nötigungshandlung im Sinne von Art. 190 StGB.
Aus der bevorstehenden polizeilichen Befragung des Sohnes der Parteien sind ferner keine weiteren Erkenntnisse hinsichtlich des Vorwurfes der Vergewaltigung zu erwarten. Auch eine erneute Befragung der Parteien vor der Verfahrenseinstellung erscheint bei der gegebenen Ausgangslage von vornherein als unerheblich. Der zuständige Staatsanwalt hat die Zivilklage im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Vergewaltigung folglich zu Recht als aussichtslos beurteilt und das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen, ohne sich mit der Frage der Prozessarmut der Beschwerdeführerin zu befassen.
3.4 In der Replik ergänzt die Beschwerdeführerin, die Polizei habe die während der Befragung geäusserten Vorwürfe betreffend Vergewaltigung sehr ernst genommen und entsprechend an die Staatsanwaltschaft rapportiert. Auch die Staatsanwaltschaft habe die Vorwürfe ernst zu nehmen, zumal sie lediglich über den Polizeirapport und die Aussagen der Beteiligten bei der Polizei verfüge, aber keine der beteiligten Personen persönlich angehört habe. Es sei nicht ersichtlich, weshalb eine Befragung des Sohnes D.__ durchgeführt werde, wenn dessen Aussagen keine weiteren Erkenntnisse ergeben sollen. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die Untersuchung wegen Vergewaltigung absichtlich nicht zu eröffnen, sei widersprüchlich und diene offensichtlich dazu, die Rechte der Parteien zu umgehen. Die Staatsanwaltschaft ignoriere, dass die Beschwerdeführerin in der Einvernahme vom 14. Juli 2022 ausdrücklich zu Protokoll gegeben habe, dass sie letztmals kurz vor dem 70. Geburtstag des Beschuldigten von diesem vergewaltigt worden sei. Der Beschuldigte habe seinen 70. Geburtstag im Jahr 2019 gehabt. Die Vergewaltigungsvorwürfe seien mithin noch nicht verjährt.
4.
4.1 Gemäss Art. 136 Abs. 1 StPO gewährt die Verfahrensleitung der Privatklägerschaft für die Durchsetzung ihrer Zivilansprüche ganz teilweise die unentgeltliche Rechtspflege, wenn (Bst. a) die Privatklägerschaft nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und (Bst. b) die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint. Die unentgeltliche Rechtspflege umfasst gemäss Art. 136 Abs. 2 StPO die Befreiung von Vorschuss- und Sicherheitsleistungen (Bst. a), die Befreiung von Verfahrenskosten (Bst. b) sowie – wenn dies zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft notwendig ist – die Bestellung eines Rechtsbeistands (Bst. c).
Aussichtslos sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung Prozessbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten jene nur wenig geringer sind als diese (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Massgebend ist, ob eine geschädigte Person, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zur Konstituierung als Privatkläger zum Zwecke der Geltendmachung der Zivilklage entschliessen würde. Die Prozesschancen sind ex ante zu beurteilen (Mazzucchelli/Postizzi, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 14 zu Art. 136 StPO), d.h. ob im Einzelfall genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich aufgrund einer vorläufigen und summarischen Prüfung der Prozesschancen nach den Verhältnissen zur Zeit der Gesuchstellung (BGE 138 III 217 E. 2.2.4 mit Hinweis). Die Voraussetzung der genügenden Prozesschancen ist bei der Adhäsionsklage in aller Regel erfüllt. Eine aussichtslose Zivilklage ist wohl nur im Rahmen eines aussichtslosen Strafverfahrens denkbar, bei welchem gleich die Nichtanhandnahme bzw. die Einstellung verfügt werden muss, wenn beim Gesuchsteller die Voraussetzungen für die Konstituierung als Privatkläger offensichtlich fehlen (Mazzucchelli/Postizzi, a.a.O., N. 15 zu Art. 136 StPO).
4.2 Betreffend den Vorwurf der Tätlichkeiten und der Drohung ist die Staatsanwaltschaft zu Recht von einer aussichtlosen Zivilklage ausgegangen und hat dementsprechend das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen. Die Beschwerdeführerin sagte anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022 selbst aus, dass diese Delikte vom Beschuldigten nicht begangen worden waren (vgl. Z. 89 ff. des Protokolls). Soweit die Beschwerdeführerin von einem von ihr gehörten Telefongespräch zwischen dem Beschuldigten und einem Kollegen berichtet, wonach dieser seinem Kollegen gesagt haben soll, dass man eine solche «Saumore söt erschiesse» (vgl. Z. 115 ff. des Protokolls der polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022), wäre für die Annahme einer Drohung gemäss Art. 180 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0) ein Vorsatz des Beschuldigten nachzuweisen, wonach er die Beschwerdeführerin mit dieser Aussage gegenüber einem Dritten in Angst und Schrecken versetzen wollte. Dies bedingte, dass der Beschuldigte wusste und wollte, dass die Beschwerdeführerin das Gespräch mithört. Einen solchen Vorsatz nachzuweisen erscheint vorliegend äusserst unwahrscheinlich, zumal die Beschwerdeführerin angab, dass der Beschuldigte zum Telefonieren in das Auto gegangen war (vgl. Z. 119 des Protokolls der polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022), mithin offensichtlich gerade nicht wollte, dass die Beschwerdeführerin ihm beim Telefongespräch zuhört. Auch insoweit erscheint die Zivilklage folglich als von vornherein aussichtslos. Die Begründung in der Beschwerde beschränkt sich denn auch einzig auf die Rüge, dass die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Vergewaltigung zu Unrecht auf Aussichtslosigkeit der Zivilklage erkannt hat.
4.3 Was den Vorwurf der Vergewaltigung anbelangt, trifft es zu, dass sich die von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde (S. 5) zitierten Aussagen betreffend geschilderte Nötigungshandlungen allesamt auf Vorfälle beziehen, welche offensichtlich bereits als verjährt erscheinen (vgl. die Vollstreckungsverjährung betreffend Vergewaltigung: 10 Jahre [aArt. 70 StGB; bis 30. September 2002] resp. 15 Jahre [Art. 99 StGB; seit 1. Oktober 2002]; vgl. Z. 48, 55 f., 105 des Protokolls der polizeilichen Einvernahme vom 23. Juni 2022). Insoweit ist bei einer vorläufigen Prüfung von einer aussichtslosen Zivilklage auszugehen (vgl. Art. 319 Abs. 1 Bst. d StPO). Die diesbezügliche Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege erweist sich als rechtens.
Die Beschwerdeführerin hat anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022 indes auf die Frage, wann die letzte Vergewaltigung stattgefunden hat, ausdrücklich erklärt, dass dies kurz vor dem 70. Geburtstag des Beschuldigten gewesen sei (vgl. Z. 156 des Protokolls). Der Beschwerdeführer hatte seinen 70. Geburtstag am 28. Januar 2019, d.h. insoweit liegt offenbar noch kein verjährter Sachverhalt vor. Gemäss Art. 6 Abs. 1 StPO klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (sog. Untersuchungsgrundsatz). Die Staatsanwaltschaft klärt den Sachverhalt in der Untersuchung tatsächlich und rechtlich so weit ab, dass sie das Vorverfahren abschliessen kann. Dabei setzt die Einstellung ein entscheidungsreifes Beweisverfahren voraus. Es dürfen keine konkret zu erhebenden Beweismittel mehr erkennbar sein, die das Resultat im gegenteiligen Sinn beeinflussen könnten (vgl. Landshut/Bosshard, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 10 zu Art. 308 StPO).
Die Beschwerdeführerin unterschied in ihren Aussagen bei der Polizei immer wieder, ob sie den Geschlechtsverkehr mit dem Beschuldigten widerwillig erduldet
oder ob sie ausdrücklich «nein» gesagt und sie der Beschuldigte alsdann gegen ihren Willen vergewaltigt hat (vgl. Z. 146 ff. des Protokolls der polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022; Z. 96 ff., 116 ff., 199 f. des Protokolls der polizeilichen Einvernahme vom 23. Juni 2022). Das Ereignis kurz vor dem 70. Geburtstag des Beschuldigten bezeichnete sie klar als Vergewaltigung. Diesbezüglich wurden in der Folge keine weiteren Abklärungen mehr getätigt. Was sich an jenem Tag ereignet haben soll, steht demnach derzeit nicht fest. Mithin kann zum jetzigen Zeitpunkt mittels einer vorläufigen Prüfung nicht beurteilt werden, ob die Aussagen der Beschwerdeführerin betreffend diesen Vorwurf als klar unglaubhaft erscheinen, so dass das Verfahren nach dessen Eröffnung umgehend wieder eingestellt werden müsste und demnach die Zivilklage auch insoweit als von vornherein aussichtslos erscheint (vgl. E. 4.1 hiervor). Allein gestützt auf das Bestreiten des Beschuldigten und die Aussagen des Hausarztes anlässlich der delegierten Einvernahme vom 10. August 2022, wonach die Beschwerdeführerin eine phantasievolle Persönlichkeit habe (vgl. Z. 80 ff. des Protokolls), erscheint es jedenfalls nicht möglich, bereits vorweg ohne einer weitergehenden Abklärung darauf zu schliessen, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin unglaubhaft erscheinen, zumal diese, wie vorstehend ausgeführt wurde, klar differenzierte, ob sie den Geschlechtsverkehr widerwillig erduldet hatte gegen ihren Willen vergewaltigt worden sein soll. Derzeit scheint noch kein entscheidungsreifes Beweisverfahren vorzuliegen, welches eine umgehende Einstellung des Verfahrens rechtfertigen würde. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren. Art. 136 Abs. 1 Bst. b StPO ist demnach bezüglich des Vorwurfs der Vergewaltigung, soweit der Lebenssachverhalt nicht als offensichtlich verjährt erscheint, erfüllt. Zudem ist die prozessuale Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin gestützt auf die mit Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vom 29. Juli 2022 eingereichten Unterlagen zu bejahen (Art. 136 Abs. 1 Bst. a StPO; vgl. auch S. 3 des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege). Der Beschwerdeführerin ist deshalb betreffend den Vorwurf der Vergewaltigung, soweit dieser nicht offensichtlich als verjährt erscheint, die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Weiter ist der Beschwerdeführerin bezüglich dieses Vorwurfs antragsgemäss Rechtsanwältin C.__ als unentgeltliche Rechtsbeiständin beizuordnen. Die Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes erscheint angesichts der sich stellenden rechtlichen und tatsächlichen Fragen und da die Beschwerdeführerin als juristische Laiin weder rechtskundig noch prozessgewohnt ist, zur Wahrung ihrer Rechte geboten. Auch der Beschuldigte scheint zwischenzeitlich anwaltlich vertreten zu sein (vgl. Z. 1 des Protokolls der delegierten Einvernahme von D.__ vom 18. Oktober 2022). Antragsgemäss wird in die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ausnahmsweise rückwirkend per 7. Juli 2022 (Zeitpunkt der Mandatierung von Rechtsanwältin C.__) gewährt.
Die Beschwerdeführerin beschrieb anlässlich ihrer polizeilichen Einvernahme vom 14. Juni 2022 diverse Beschimpfungen (vgl. Z. 97 ff. des Protokolls), welche offensichtlich noch nicht verjährt erscheinen. Auch insoweit erachtet die Beschwerdekammer in Strafsachen die Zivilklage nicht als von vornherein aussichtslos, weshalb der Beschwerdeführerin auch diesbezüglich die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren ist.
5. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung ist aufzuheben. Der Beschwerdeführerin ist im Verfahren EO 22 6520 in Bezug auf den Vorwurf der Vergewaltigung, mutmasslich begangen ab Mitte Juni 2007 (Verjährung: 15 Jahre), sowie der Beschimpfung, mutmasslich begangen ab Mitte Juni 2018 (Verjährung: 4 Jahre), per 7. Juli 2022 die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren unter Beiordnung von Rechtsanwältin C.__ als unentgeltliche Rechtsbeiständin. Soweit weitergehend ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
6.
6.1 Die Beschwerdeführerin obsiegt insoweit, als ihr bezüglich des Vorwurfs der Vergewaltigung und der Beschimpfung, soweit die Vorwürfe nicht als offensichtlich verjährt erscheinen, die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren ist. Soweit weitergehend ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Angesichts dieses Ausgangs des Verfahrens rechtfertigt es sich, die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1'200.00, zu einem Viertel, ausmachend CHF 300.00, der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 428 Abs. 1 StPO). Drei Viertel der Verfahrenskosten, ausmachend CHF 900.00, trägt der Kanton Bern.
6.2 Die Beschwerdeführerin hat zudem soweit sie teilweise obsiegt, Anspruch auf eine Entschädigung. Diese wird pauschal auf CHF 1'200.00 (inkl. Auslagen und MWST) festgesetzt und vom Kanton Bern ausgerichtet.
Die Beschwerdekammer in Strafsachen beschliesst:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Ziff. 1 der Verfügung der Regionalen Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau vom 17. August 2022 (EO 22 6520) wird aufgehoben.
Der Beschwerdeführerin wird im Verfahren EO 22 6520 in Bezug auf den Vorwurf der Vergewaltigung, mutmasslich begangen ab Mitte Juni 2007, sowie der Beschimpfung, mutmasslich begangen ab Mitte Juni 2018, per 7. Juli 2022 die unentgeltliche Rechtspflege gewährt unter Beiordnung von Rechtsanwältin C.__ als unentgeltliche Rechtsbeiständin. Soweit weitergehend wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1'200.00 werden zu einem Viertel, ausmachend CHF 300.00, der Beschwerdeführerin auferlegt. Drei Viertel der Verfahrenskosten, ausmachend CHF 900.00, trägt der Kanton Bern.
3. Der Beschwerdeführerin wird für ihre Aufwendungen im Beschwerdeverfahren vom Kanton Bern eine Entschädigung von pauschal CHF 1'200.00 (inkl. Auslagen und MWST) ausgerichtet.
4. Zu eröffnen:
• der Straf- und Zivilklägerin/Beschwerdeführerin, v.d. Rechtsanwältin C.__
(per Einschreiben)
• der Generalstaatsanwaltschaft (per Kurier)
Mitzuteilen:
• dem Beschuldigten (per A-Post)
• der Regionalen Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau, Staatsanwalt F.__ (mit den Akten – per Einschreiben)
Bern, 7. November 2022
Im Namen der Beschwerdekammer
in Strafsachen
Der Präsident:
Oberrichter J. Bähler
Die Gerichtsschreiberin:
Lauber
Die Rechtsmittelbelehrung folgt auf der nächsten Seite.
Die Entschädigung für das Beschwerdeverfahren wird durch die Beschwerdekammer in Strafsachen entrichtet. Es wird um Zustellung eines Einzahlungsscheins ersucht.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden durch die Beschwerdekammer in Strafsachen in Rechnung gestellt.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Bundesgericht, Av. du Tribunal fédéral 29, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 39 ff., 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) geführt werden. Die Beschwerde muss den Anforderungen von Art. 42 BGG entsprechen.